Die Differential- bzw. Differenzialrechnung ist ein wesentlicher Bestandteil der Analysis und damit ein Gebiet der Mathematik. Sie ist eng verwandt mit der Integralrechnung, mit der sie unter der Bezeichnung Infinitesimalrechnung zusammengefasst wird. Zentrales Thema der Differentialrechnung ist die Berechnung lokaler Veränderungen von Funktionen.
Einführung
Ausgangspunkt für die Definition der Ableitung ist die Näherung der Tangentensteigung durch eine Sekantensteigung (manchmal auch Sehnensteigung genannt). Gesucht sei die Steigung einer Funktion in einem Punkt
. Man berechnet zunächst die Steigung der Sekante an
über einem endlichen Intervall:
Sekantensteigung = .
Die Sekantensteigung ist also der Quotient zweier Differenzen; sie wird deshalb auch Differenzenquotient genannt. Mit der Kurznotation für
kann man die Sekantensteigung abgekürzt als
schreiben.
Differenzenquotienten sind aus dem täglichen Leben wohlbekannt, zum Beispiel als Durchschnittsgeschwindigkeit:
„Auf der Fahrt von Augsburg nach Flensburg war ich um 9:43 Uhr () am Kreuz Biebelried (Tageskilometerstand
= 198 km). Um 11:04 Uhr (
) war ich am Dreieck Hattenbach (Tageskilometerstand
=341 km). In 1 Stunde und 21 Minuten (
) habe ich somit 143 km (
) zurückgelegt. Meine Durchschnittsgeschwindigkeit auf dieser Teilstrecke betrug somit 143 km / 1,35 h = 106 km/h (
).“
Um eine Tangentensteigung (im genannten Anwendungsbeispiel also eine Momentangeschwindigkeit) zu berechnen, muss man die beiden Punkte, durch die die Sekante gezogen wird, immer weiter aneinander rücken. Dabei gehen sowohl als auch
gegen Null. Der Quotient
bleibt aber im Normalfall endlich. Auf diesem Grenzübergang beruht die folgende Definition:
Differenzierbarkeit und Ableitung in einem Punkt: Formale Definition und Notation
Eine Funktion , die ein offenes Intervall U in die reellen Zahlen abbildet, heißt differenzierbar an der Stelle
, falls der Grenzwert
(mit
)
existiert. Dieser Grenzwert heißt Differentialquotient oder Ableitung von nach
an der Stelle
und wird als
oder
oder
oder
notiert
(gesprochen: „f Strich von x null“, „d f von x nach d x an der Stelle x gleich x null“, „d f nach d x von x null“ respektive „d nach d x von f von x null“).
Die Terme und
werden als Differentiale bezeichnet, haben aber in der modernen Analysis (zumindest bis zu diesem Punkt der Theorie) lediglich symbolische Bedeutung und sind bisher nur in dieser Schreibweise des formal notierten Differentialquotienten erlaubt. In manchen Anwendungen (Kettenregel, Integration mancher Differentialgleichungen, Integration durch Substitution) rechnet man mit ihnen fast wie mit „normalen“ Variablen. Die präzise formale Begründung hierfür liefert die Theorie der Differentialformen. Ein Differential ist auch Teil der üblichen Notation für Integrale.
Die Notation einer Ableitung als Quotient zweier Differentiale wurde von Leibniz eingeführt. Newton benutzte einen Punkt über der abzuleitenden Größe, was in der Physik für Zeitableitungen bis heute üblich geblieben ist (, sprich: „x Punkt“). Die Notation mit Strich (
) geht auf Joseph-Louis Lagrange zurück, der sie 1797 in seinem Buch Théorie des fonctions analytiques einführte.
Im Laufe der Zeit wurde folgende gleichwertige Definition gefunden, die sich im allgemeineren Kontext komplexer oder mehrdimensionaler Funktionen als leistungsfähiger erwiesen hat:
Eine Funktion heißt in einem Punkt differenzierbar, falls eine Konstante
existiert, so dass
Der Zuwachs der Funktion , wenn man sich von
nur wenig entfernt, etwa um den Wert
, lässt sich also durch
sehr gut approximieren, man nennt die lineare Funktion
mit
deswegen auch die Linearisierung von
an der Stelle
.
Eine weitere Definition ist: Es gibt eine an der Stelle stetige Funktion
mit
und eine Konstante
, für die gilt
.
Die Bedingungen und dass
an der Stelle
stetig ist, bedeuten gerade, dass das „Restglied“
für
gegen
gegen null konvergiert.
Der Vorteil dieser Formulierung ist, dass Beweise einfacher zu führen sind, da kein Quotient betrachtet werden muss. Diese Darstellung der besten linearen Approximation wurde schon von Weierstraß, Henri Cartan und Jean Dieudonné konsequent angewandt.
Bezeichnet man eine Funktion als differenzierbar, ohne sich auf eine bestimmte Stelle zu beziehen, dann bedeutet dies die Differenzierbarkeit an jeder Stelle des Definitionsbereiches, also die Existenz einer eindeutigen Tangente für jeden Punkt des Graphen.
Eine differenzierbare Funktion ist immer stetig, die Umkehrung gilt jedoch nicht. Noch Anfang des 19. Jahrhunderts war man überzeugt, dass eine stetige Funktion höchstens an wenigen Stellen nicht differenzierbar sein könne (wie die Betragsfunktion). Bernard Bolzano konstruierte dann als erster Mathematiker tatsächlich eine Funktion, die überall stetig, aber nirgends differenzierbar ist, was in der Fachwelt allerdings nicht bekannt wurde; Karl Weierstraß fand dann in den 1860er Jahren ebenfalls eine derartige Funktion (siehe Weierstraß-Funktion), was diesmal unter Mathematikern Wellen schlug. Ein bekanntes mehrdimensionales Beispiel für eine stetige, nicht differenzierbare Funktion ist die von Helge von Koch 1904 vorgestellte Koch-Kurve.
Ableitung als eine Funktion
Die Ableitung der Funktion an der Stelle
, bezeichnet mit
, beschreibt lokal das Verhalten der Funktion in der Umgebung der betrachteten Stelle
. Nun wird
im Allgemeinen nicht die einzige Stelle sein, an der
differenzierbar ist. Man kann daher versuchen, jeder Zahl
aus dem Definitionsbereich von
die Ableitung an dieser Stelle (also
) zuzuordnen. Auf diese Weise erhält man eine neue Funktion
, deren Definitionsbereich die Menge
aller Punkte ist, an denen
differenzierbar ist. Diese Funktion
heißt die Ableitungsfunktion oder kurz die Ableitung von
und man sagt,
ist auf
differenzierbar. Beispielsweise hat die Quadratfunktion
an einer beliebigen Stelle
die Ableitung
, die Quadratfunktion ist also auf der Menge der reellen Zahlen differenzierbar. Die zugehörige Ableitungsfunktion
ist gegeben durch
.
Die Ableitungsfunktion ist im Normalfall eine andere als die ursprüngliche, einzige Ausnahme ist die Exponentialfunktion und ihre Vielfachen.
Ist die Ableitung stetig, dann heißt stetig differenzierbar. In Anlehnung an die Bezeichnung
für die Gesamtheit (Raum) der stetigen Funktionen mit Definitionsmenge
wird der entsprechende Raum der stetig differenzierbaren Funktionen mit
abgekürzt.
Berechnung von Ableitungen
Das Berechnen der Ableitung einer Funktion wird Differentiation genannt; sprich, man differenziert diese Funktion.
Um die Ableitung elementarer Funktionen (z. B. ,
,…) zu berechnen, hält man sich eng an die oben angegebene Definition, berechnet explizit einen Differenzenquotienten und lässt dann
gegen Null gehen. In der Schulmathematik wird dies als „h-Methode“ bezeichnet. Der typische Mathematikanwender vollzieht diese Berechnung nur ein paar wenige Male in seinem Leben nach. Später kennt er die Ableitungen der wichtigsten elementaren Funktionen auswendig, schlägt Ableitungen nicht ganz so geläufiger Funktionen in einem Tabellenwerk (z. B. im Bronstein-Semendjajew oder unserer Tabelle von Ableitungs- und Stammfunktionen) nach und berechnet die Ableitung zusammengesetzter Funktionen mit Hilfe der Ableitungsregeln.
Beispiel für die elementare Berechnung einer Ableitungsfunktion
Gesucht sei die Ableitung von . Dann berechnet man den Differenzenquotienten als
und erhält im Limes die Ableitung der Funktion
Beispiel für eine nicht überall differenzierbare Funktion
ist an der Stelle 0 nicht differenzierbar:
Für alle gilt nämlich
und damit
.
Für alle gilt dagegen
und folglich
.
Da der links- und der rechtsseitige Grenzwert nicht übereinstimmen, existiert der Grenzwert nicht. Die Funktion ist somit an der betrachteten Stelle nicht differenzierbar. Die Differenzierbarkeit der Funktion an allen anderen Stellen ist dagegen noch immer gegeben.
Es existieren an der Stelle 0 jedoch die rechtsseitige Ableitung
und die linksseitige Ableitung
.
Betrachtet man den Graphen von , so kommt man zu der Erkenntnis, dass der Begriff der Differenzierbarkeit anschaulich bedeutet, dass der zugehörige Graph knickfrei verläuft.
Ein typisches Beispiel für nirgends differenzierbare stetige Funktionen, deren Existenz zunächst schwer vorstellbar erscheint, sind fast alle Pfade der brownschen Bewegung. Diese wird zum Beispiel zur Modellierung der Charts von Aktienkursen benutzt.
Beispiel für eine nicht überall stetig differenzierbare Funktion
Eine Funktion heißt stetig differenzierbar, wenn ihre Ableitung stetig ist. Selbst wenn eine Funktion überall differenzierbar ist, muss die Ableitung nicht stetig sein. Zum Beispiel ist die Funktion
an jeder Stelle, inklusive , differenzierbar. Die Ableitung, die an der Stelle 0 über den Differenzenquotient bestimmt werden kann,
ist aber an der Stelle 0 nicht stetig.
Ableitungsregeln
Ableitungen zusammengesetzter Funktionen, z.B. oder
, führt man mit Hilfe von Ableitungsregeln auf die Differentiation elementarer Funktionen zurück (siehe auch: Tabelle von Ableitungs- und Stammfunktionen).
Mit den folgenden Regeln kann man die Ableitung zusammengesetzter Funktionen auf Ableitungen einfacherer Funktionen zurückführen. Seien ,
und
(im Definitionsbereich) differenzierbare, reelle Funktionen,
und
reelle Zahlen, dann gilt:
Konstante Funktion
Faktorregel
Summenregel
Produktregel
Quotientenregel
Reziprokenregel
Potenzregel
Kettenregel
Umkehrregel
Ist eine an der Stelle
differenzierbare, bijektive Funktion mit
, und ihre Umkehrfunktion
bei
differenzierbar, dann gilt:
Spiegelt man einen Punkt des Graphen von
an der 1. Winkelhalbierenden und erhält damit
auf
, so ist die Steigung von
in
der Kehrwert der Steigung von
in
Logarithmische Ableitung
Aus der Kettenregel folgt für die Ableitung des natürlichen Logarithmus einer Funktion :
Ein Bruch der Form wird logarithmische Ableitung genannt.
Ableitung der Potenzfunktion
Um abzuleiten, erinnert man sich, dass Potenzen mit reellen Exponenten auf dem Umweg über die Exponentialfunktion definiert sind:
. Anwendung der Kettenregel und – für die innere Ableitung – der Produktregel ergibt
.
Leibnizsche Regel
Die Ableitung -ter Ordnung für ein Produkt aus zwei
-fach differenzierbaren Funktionen
und
ergibt sich aus
.
Die hier auftretenden Ausdrücke der Form sind Binomialkoeffizienten.
Formel von Faà di Bruno
Diese Formel ermöglicht die geschlossene Darstellung der -ten Ableitung der Komposition zweier
-fach differenzierbarer Funktionen. Sie verallgemeinert die Kettenregel auf höhere Ableitungen.
Der Fundamentalsatz der Analysis
Die wesentliche Leistung von Leibniz war die Erkenntnis, dass Integration und Differentiation zusammenhängen. Diese formulierte er im Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung, auch Fundamentalsatz der Analysis genannt. Er besagt:
Ist ein Intervall,
eine stetige Funktion und
ein beliebiger Punkt, so ist die Funktion
stetig differenzierbar, und ihre Ableitung ist .
Hiermit ist also eine Anleitung zum Integrieren gegeben: Gesucht ist eine Funktion, deren Ableitung der Integrand ist. Dann gilt:
.